Busfaktor trifft Diversität - Wie cross-funktional darf das Team sein?

Wenn Teammitglieder versuchen, gemeinsam Ziele zu erreichen, kommt früher oder später die Frage auf, wer für wen bei welchen Aufgaben einspringen kann. Spätestens bei Urlaub oder Krankheit eines Kollegen zeigt sich, ob seine Skills auch bei anderen Personen im Team vertreten sind. Ist das nicht der Fall, bleiben Arbeiten liegen, und im schlimmsten Fall ist das Team blockiert. In diesem Zusammenhang spricht man von einem (zu) niedrigen Busfaktor. Gemeint ist damit: Wieviele Teammitglieder müssen vom Bus angefahren werden, damit das Team nicht mehr arbeitsfähig ist. Ist der Wert niedrig, können Abwesenheiten einzelner Personen zu Störungen führen.

Gerade agile Teams sollen in der Lage sein, komplexe Aufgaben selbständig zu erledigen. Von cross-funktionalen Teams ist die Rede. Bereits für vergleichsweise einfache Produkte kann dabei eine beachtliche Liste an Fertigkeiten notwendig sein. Stellen wir uns eine Webanwendung vor, die öffentlich von Kunden genutzt werden kann. Welche Skills braucht das Team? Mir fallen mindestens die folgenden ein:

  • Graphik-Design

  • Frontend-Programmierung

  • Backend-Programmierung

  • Datenbank-Know how

  • Evtl. Cloud-Dienste oder Betrieb von Servern

  • Juristisches Fachwissen, Datenschutz-Know-how

  • Testmethoden

  • Sicherheit von IT-Systemen, Einbruchschutz

Ich vermute, dass die meisten Punkte nicht überraschend sind. Der Vorschlag, einen Juristen in ein cross-funktionales Team zu holen, dürfte aber eher unkonventionell sein. Tatsächlich habe ich einem Kunden genau das empfohlen. Die Softwareentwicklungsteams waren wiederholt nicht in der Lage, ihre zugesagten Aufgaben zu abzuschließen, weil die Teammitglieder Fragen des Datenschutzes nicht beantworten konnten. Für juristische Fragen gab es eine Rechtsabteilung, die aber in die Terminzusagen nicht eingebunden war. 

Ob der Jurist tatsächlich gut in einem Team aufgehoben ist, hängt davon ab, wie oft das Team sein Fachwissen braucht. Vermutlich ist es eine bessere Idee, in einem Scaled Agile-Kontext von mehreren Teams eines zu haben, das die juristischen Fragen beantworten kann. Wichtig ist dabei nur, dass alle Teams gemeinsame Ziele haben und sich Juristen und Softwareentwickler gemeinsam zur Zielerreichung verpflichten.

Wenn man nun verhindern möchte, dass der Busfaktor zu niedrig ist, könnte man auf die Idee kommen, dass jeder im Team alles kann. Im konkreten Fall brauchte man Graphikdesigner, die Frontend und Backend programmieren können, Jura mit Schwerpunkt “Datenschutzrecht” studiert haben und Software testen können. So funktioniert es offensichtlich auch nicht.

Es stellen sich Fragen: Wie finde ich heraus, ob die Skills im Team richtig verteilt sind? Wie prüfe ich, ob der Busfaktor nicht zu hoch und nicht zu niedrig ist?  

Den ersten Schritt mache ich mit einer einfachen Frage ans Team: “Welche Skills braucht das Team, um seine Aufgaben zu erledigen?” Das funktioniert in einem Team, das bereits eine Weile zusammenarbeitet, ganz gut. Man kann einfach auf die Aufgaben der Vergangenheit zurückgreifen und eine Liste an Know-how und Fertigkeiten aufstellen. Bereits bei der Erstellung der Liste entstehen oft gute Gespräche, in denen sich die Teammitglieder darüber einig werden, was zu ihren Aufgaben gehört und was nicht.

Im zweiten Schritt bitte ich alle Personen, zu jedem Punkt der Liste eine Selbsteinschätzung abzugeben. Daraus ergibt sich ein Bild über mögliche Engpässe, also Know-how-Bereiche, die bei Abwesenheit eines Teammitglieds zum Problem werden können. Aus diesen Engpässen lassen sich teaminterne Weiterbildungsmaßnahmen ableiten. Das müssen keine externen Schulungen sein. Eine einfache Maßnahme besteht darin, dass Aufgaben, die nur eine Person übernehmen kann, für einen gewissen Zeitraum von zwei Personen gemeinsam ausgeführt werden (z.B. pair programming). Das dient dem Know-how-Aufbau und der Verbesserung eines zu niedrigen Busfaktors.

Müssen alle gleich sein?

Das andere Extrem eines zu hohen Busfaktors habe ich noch nie erlebt. Die beschriebene Vorgehensweise erweckt bei den Teams, mit denen ich arbeite, manchmal den Eindruck, dass “hoch” immer gut ist.

Um dem Entgegenzuwirken kombiniere ich mittlerweile meine Workshops zum Busfaktor mit dem Thema “Diversität”. Dazu verwende ich einen Diversity Index, dem die Frage zugrunde liegt, “wieviel Diversität braucht unser Team?” 

Hier geht es also nicht um die Frage, “was sollten wir alle können”, sondern um die Frage “worin sollten wir uns unterscheiden?” 

Der Begriff der “Diversität” umfasst im Verständnis der Menschen, mit denen ich arbeite, nicht nur Fertigkeiten und Know how. Es geht auch um weiche Themen wie “Kommunikationsverhalten”, “Mindset”, “initiativ versus stetig” und ähnliche Dinge.

Ich beginne den Dialog dazu mit der Frage, “in welchen Aspekten braucht Ihr Diversität im Team?” Zunächst sammle ich die Antworten und erstelle eine Liste. Im Anschluss kläre ich mit dem Team Verständnisfragen, und gemeinsam sprechen wir darüber, welche Relevanz die einzelnen Punkte auf der Liste haben. Das Ergebnis ist eine gekürzte Liste, die alle im Team akzeptieren. Im Anschluss lasse ich die Mitglieder abstimmen, welches Maß an Diversität zu jedem Punkt im Team vorliegt. Eine Skala von 1 bis 10 macht auch feine Unterschiede in der Wahrnehmung deutlich. Dort, wo es große Unterschiede gibt, lohnt sich ein Gespräch.

So stellte ein Team, das ich begleitet habe, zum Beispiel einmal fest, dass es nützlich ist, wenn ein Teammitglied eher diplomatisch kommuniziert, während jemand anderes sehr direkt und manchmal offensiv auftritt. Im Umgang mit Außenstehenden - so das Team - braucht man mal das eine, mal das andere. Im Dialog entstand dabei Wertschätzung für ein Kommunikationsverhalten, das teamintern hin und wieder als störend wahrgenommen wurde. Das Team konnte seit dem Meeting viel bewusster entscheiden, wer welche Themen auf welche Weise nach außen, z.B. in teamübergreifenden Besprechungen, vertritt.

Fazit

Nach meiner Erfahrung funktioniert es sehr gut, in einem gemeinsamen Meeting über den Busfaktor zu sprechen (Suche nach Gemeinsamkeiten) und über die Diversität (Suche nach und Wertschätzung für Unterschiede). Es ergibt auch Sinn, diesen Dialog regelmäßig und in größeren Abständen zu wiederholen. Führt man ihn etwa einmal im Jahr durch, zeigt sich ggf. die Weiterentwicklung des Teams und seiner Mitglieder. Bei großen Veränderungen kann es sinnvoll sein, schon früher noch einmal miteinander zu sprechen. Veränderungen können neue Personen sein, die dazukommen, Personen, die das Team verlassen, oder neue Aufgaben, die von der Gruppe andere Skills u.ä. erfordern.

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